Wie Werte und Charakter bei Menschen entstehen

Über das Zusammenspiel von Hormonen und Erfahrungen aus Sicht der Neurobiologie

Von Oliver Jung, September 2017 

 

Werte bestimmen und entscheiden über das, was der Mensch als lebenswert hält, wofür er morgens aufsteht und was ihn im Leben antreibt. Werte sorgen für unsere Haltung und Einstellung bezüglich dessen, wonach wir handeln und wofür wir einstehen. Diese Werte entstehen bereits im Mutterbauch, wo grundlegende Eigenschaften festgelegt werden, wie wir uns später verhalten und wonach wir streben. Dabei spielen Hormone und Prägungen, sowie ganz eigene Erfahrungen eine große Rolle. Je öfter wir dann im Laufe unseres Lebens bestimmte Erfahrungen machen, desto mehr manifestieren sich die damit einhergehenden Verhaltensweisen, die wir auch Charaktereigenschaften nennen können.

Erregungsübertragungsbereitschaften und Neuromodulatoren

Die neurochemischen Substanzen Dopamin, Serotonin, Noradrenalin, Acetylcholin und endogene Opioide um nur einige wichtige in unserem Zusammenhang zu nennen, sind körpereigene Neurotransmitter und gehören zu den Neuromodulatoren oder neuroplastischen Botenstoffe. Die Bezeichnung "plastisch" oder "modulieren" deshalb, weil sie die Wirkung anderer Transmitter sehr schnell verändern können, lokal an bestimmten Synapsen wirken oder wie o.g. sich kaskadenähnlich über ganze Hirnareale ergießen. Ihre Wirkung kann dabei im Sekundenbereich liegen oder über mehrere Stunden andauern (vgl. Roth et al. 2014, S. 95). Ein weiteres ebenso wichtiges Neuropeptid ist das sogenannte Bindungshormon Oxytocin, das unter anderem bei sozialen Interaktionen eine große Rolle spielt. Diese Neuromodulatoren und Neuropeptide werden in meist eng umgrenzten Bereichen im Gehirn produziert aber mitunter weiträumig im Gehirn verteilt (vgl. ebd. S. 96). Epigenetisch gesehen, in ihrer Gen-Umwelt Interaktion, können Variationen von genetischen Ausstattungen bei Menschen die Funktionsweisen dieser Neuromodulatoren und Peptide beeinflussen, wie aus den Anmerkungen zu entnehmen ist (vgl. ebd. S. 102 ff.). 

Wie werden hier  lediglich die wichtigsten Eigenschaften und Wirkungen der wesentlichen Neuromodulatoren und Peptide ausreichend beschreiben. Veranschaulicht soll damit, wie Wahrnehmungsreize, Erfahrungen und neurochemische Substanzen miteinander korrelieren. Dabei zeigt sich, wie das Verhalten eines Individuums durch neurochemische Substanzen, verstärkt aktiviert oder gehemmt wird. Ebenfalls, dass eine Bedingtheit eines Verhaltens und dessen Wirkung wechselseitig aufeinander bezogen sind, mit der Ausschüttung von Hormonen einhergeht und dadurch der Charakter und die Werte eines Menschen entstehen.

Gendispositionen, Emotionen, Sozialisierung und das damit korrelierende Verhalten, unterliegen in ihrer feinen Verwobenheit gewissen Konditionierungen. Dies geht einher mit vorgeburtlichen und frühkindlichen sowie fortdauernden, weiteren Erfahrungen und/oder mehrfach wiederholenden Verhaltensweisen. Dies wird wiederum durch äußere Einflüsse der Mit- und Umwelt bedingt und den Reaktionen des Individuums darauf. 

Mit- und Umwelt, individualgeschichtliche Erfahrungen und dessen subjektive Bedeutungszusammenhänge sowie eine Gen-Umwelt Interaktion und die bei all dem beteiligte Aktivierung endogener neurochemischer Substanzen (Hormone), lassen letztlich das Individuum mit Eigengesetzlichkeiten und bestimmten Verhaltensweisen entwickeln (vgl. ebd., 2014). 

Dopamin

Dopamin ist unter anderem bei motivationalem und zielgerichtetem Verhalten beteiligt. Ihm wird eine anspornende Bedeutung zugeschrieben und "(...) erzeugt hierüber eine Belohnungserwartung, die als direkte Grundlage von Motivation angesehen werden kann" (vgl. ebd., S. 97). Fällt eine Belohnung für ein bestimmtes Verhalten höher oder niedriger aus als erwartet, verstärkt oder vermindert sich die Aktivität der dopaminergen Neuronen. Roth verweist hierbei auf den Zusammenhang, inwieweit ein Individuum motiviert ist ein bestimmtes Verhalten auszuführen oder nicht. "Eine schnelle und hohe Dopaminfreisetzung informiert über das Eintreten einer unerwarteten Belohnung, eine langsame, moderate Dopaminfreisetzung signalisiert die Unsicherheit darüber, ob die Belohnung auch wirklich eintritt. Dieser Unsicherheitsfaktor beeinflusst, ob man motiviert ist, ein Verhalten auszuführen, oder nicht" (ebd. S. 100).

Es sind also Zellaktivitäten im Gange die signalisieren, ob bei einem bestimmten Verhalten eine Belohnung zu erwarten ist und es für das Individuum motivierend erscheint, dieses Verhalten anzustreben oder gar beizubehalten. Dopamin ist demnach als ein Antreiber zu sehen und ist bei der Neugierde beteiligt, wenn Verhaltens- und Handlungsplanungen angesteuert werden. Roth verweist letztlich auch auf einen Einfluss von Genen und Erfahrungen im Zusammenhang mit Dopamin. „Die individuelle Funktionsweise des dopaminergen Systems kann durch die genetische Ausstattung beeinflusst werden und hierüber Persönlichkeitszüge bestimmen (…). So steht eine bestimmte Variante des Gens für den Dopamin—D4-Rezeptor im Zusammenhang mit der Persönlichkeitseigenschaft Offenheit / Intellekt, also der Eigenschaft, phantasievoll, neugierig und künstlerisch zu sein. Das Gleiche gilt für eine bestimmte Variante des Gens für die Catechol-O-Methyltransferase (COMT), eines Proteins, das am Dopaminabbau beteiligt ist (DeYoung et al. 2011). Genvarianten dieser und weiterer Komponenten des dopaminergen Systems wurden mit Aufmerksamkeitsleistungen, impulsivem, gewalttätigem oder risikoreichem Verhalten sowie mit Sensationslust in Verbindung gebracht. Bei Individuen mit psychischen Störungen wie etwa der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) wurden ebenfalls spezielle Genvarianten des dopaminergen Systems gefunden. Bei Ratten hat man nachgewiesen, dass auch Erfahrungen die Entwicklung und Aktivität des dopaminergen Systems und des entsprechenden Verhaltens beeinflussen können.

Generell zeigt sich bei den Auswirkungen verschiedener genetischer Varianten für den Dopaminrezeptor eine Gen-Umwelt-Interaktion. So reagieren Kinder, die eine bestimmte Genvariante des Dopamin-D4-Rezeptors besitzen, besonders stark auf die Feinfühligkeit der Mutter. Ist die Mutter wenig feinfühlig, so neigen die Kinder zu oppositionellem und aggressivem Verhalten. Reagiert die Mutter hingegen sehr feinfühlig, sind die Kinder ausgesprochen friedlich (Bakermans-Kranenburg und van Ijzendoorn 2006, Abbildung 3.3). Dies stimmt mit der „Differential Susceptibility“ Hypothese von Jay Belsky (1997) überein, nach der bestimmte Kinder aufgrund ihres Temperaments oder ihrer genetischen Ausstattung für Auswirkungen von positiven wie negativen Umwelteinflüssen empfindlicher sind als andere. Diese Kinder können mehr als andere von einer positiven Umwelt profitieren, werden aber auch öfter von schwierigen frühen Lebensbedingungen negativ beeinflusst" (Roth 2014, S.102f.).

Serotonin

Serotonin hat im allgemeinen eine ausgleichende Wirkung auf die Stimmungslage. Es wirkt beruhigend auf Reizbarkeit, Aggression und Ängste. Stress beispielsweise, die o.g. Wirkungen hervorbringen kann, wird durch eine erhöhte Freisetzung von Serotonin in den Zielgebieten kompensiert. Serotonin beeinflußt viele psychische Funktionen die ebenso mit physischen Merkmalen einhergehen können, wie Emotionen, Schlaf, Gedächtnis, Temperaturregulationen und Appetit. 

Großen Einfluß übt die Freisetzung von Serotonin auf Ängste und Panik aus. Serotonin hat wahrscheinlich diesbezüglich die Wirkung durch Freisetzung, dass vorausschauende Furcht (die zur Vorsicht mahnt) fördert, jedoch aufkommende Panik dagegen hemmt. Ebenso kommt es zu einer Erhöhung von Aggressionen und Impulsivität bei einer verringerten Freisetzung von Serotonin, bzw. eine Freisetzung von Serotonin hemmt eine Vielzahl impulsiver Handlungen beim Menschen, wie Roth es ausdrückt. "Es wird angenommen, dass Serotonin grundsätzlich für die Hemmung von Verhalten wichtig ist. Eine Verringerung der serotonergen Übertragung bewirkt hiernach, dass es manchen Menschen schwer fällt, eine passive oder abwartende Haltung einzunehmen. Entsprechend könnte man Serotonin als Gegenspieler des Dopamins betrachten: Während Dopamin ein appetitives System darstellt, das eine Hinwendung zu positiver Reizen oder Ereignissen fördert, wirkt das Serotoninsystem als aversives System, das die Abwendung von negativen Reizen und damit ein passives verhalten fördert" (vgl. ebd., S. 107). 

Auch hier verweist Roth auf einen Einfluss von Genen und Erfahrungen im Zusammenhang mit Serotonin. „Verschiedene genetische Varianten haben eine Bedeutung für die individuelle Entwicklung des Serotoninsystems. Am bekanntesten ist der Polymorphismus des Serotonintransporter-Gens. Eine bestimmte Region dieses Gens, Promotorregion genannt, dient dem An- und Abschalten der Genexpression, d.h.‚ sie bestimmt, wann wie viel Transporterprotein synthetisiert wird. Diese Region kann nun in unterschiedlichen Formen vorliegen. Bei der S-Variante (»short«) ist sie gegenüber dem L-Allel (»Iong«) leicht verkürzt. Dies führt im Vergleich zur L-Variante zu einer verringerten Synthese des Transporterproteins und somit zu einer reduzierten Serotoninwiederaufnahme und einer verlängerten Wirkung des Serotonins im synaptischen Spalt (Canli und Lesch 2007, Abbildung 3.4). Einer Reihe von Untersuchungen zufolge ist dieser Polymorphismus bedeutsam für die Entwicklung der Persönlichkeit und das Risiko, psychische Erkrankungen zu entwickeln. Das S-Allel steht danach im Zusammenhang mit angstbezogenen Persönlichkeitsmerkmalen, einer höheren Amygdala-Reaktivität auf bedrohliche Reize, einer Tendenz zu Depressionen und einer erhöhten Stressempfindlichkeit oder Reizbarkeit. Allerdings sind die Befunde nicht eindeutig, und es wird spekuliert, dass dieser Zusammenhang nur dann gegeben ist, wenn die genetische Variante an frühe oder erhebliche Stresserfahrungen gebunden ist, d.h.‚ wenn eine Gen-Umwelt Interaktion auftritt. Polymorphismen von anderen Komponenten des 5-HT-Systems können ebenfalls serotonerge Funktionen und deren Auswirkungen auf die Psyche modulieren. Die Promotorregion des Gens für den 5-HT‚A-Rezeptor kann beispielsweise in verschiedenen Varianten vorliegen und hierüber eine Tendenz zu übertriebener Ängstlichkeit oder zu Depressionen bewirken. Negative Umweltbedingungen können die Entwicklung und Funktion des Serotoninsystems ebenfalls beeinflussen. Bei erwachsenen Nagern‚ die während ihrer Entwicklung von ihrer Mutter getrennt oder in sozialer Isolation aufwuchsen, stellte man im Hippocampus und im medialen präfrontalen Cortex eine geringere Serotoninkonzentration sowie Veränderungen in der Funktion der verschiedenen Serotoninrezeptoren und des Scrotonintransporters fest. Auch ist dann das Gleichgewicht serotonergerund dopaminerger Fasern im medialen präfrontalen Cortex verändert (Braun et al. 2ooo)‚ die ja gegensätzliche Funktionen haben. Beim Menschen ist ebenfalls ein — wenngleich komplexer — Einfluss früher Erfahrungen auf das serotonerge System vorhanden. Früh misshandelte und depressive Kinder weisen eine höhere serotonerge Aktivität auf als nicht misshandelte Kinder, während bei Erwachsenen eine frühe Misshandlung an eine verringerte serotonerge Aktivität gebunden scheint. Ob frühe traumatische Erfahrungen allerdings über eine Veränderung des Serotoninsystems die Entstehung psychischer Erkrankungen begünstigen, hängt von der oben angesprochenen Gen-Umwelt-Interaktion ab. Menschen mit mindestens einer S-Variante des Gens für den Serotonintransporter haben hiernach im Vergleich mit dem L/L-Genotyp (je ein L-Allel von der Mutter und vom Vater) mehr depressive Symptome und Selbstmordneigungen, wenn sie mehrfach erheblichen Stress erlebt haben, etwa im ersten Lebensjahrzehnt Misshandlungen ausgesetzt waren (Caspi et al. 2003). Kinder mit mindestens einem S-Allel, deren Mütter eine geringe Fürsorge zeigten, entwickeln mit höherer Wahrscheinlichkeit eine unsichere Bindung als andere Kinder. Bei Kindern mit dem L/L-Genotyp spielt die mütterliche Bereitschaft und Feinfühligkeit dagegen keine derart große Rolle. Schon vorgeburtliche Erfahrungen können Auswirkungen auf das spätere Temperament und das Verhalten des Kindes haben; diese sind allerdings abhängig von der genetischen Ausstattung. Kinder mit zwei S-Allelen‚ deren Mütter während des dritten Drittels der Schwangerschaft starke Angstzustände hatten, sind. selbst ängstlicher und neigen zu depressiven Symptomen, während dieselben Bedingungen bei Kindern mit dem L/L-Genotyp zu einer erhöhten Aggression und zu aggressivem Verhalten führen können. Zudem weisen jugendliche Träger des L/L-Genotyps‚ die unter ungünstigen soziökonomischen und psychosozialen Verhältnissen aufwachsen, vermehrt Gefühllosigkeit und Narzissmus auf — zwei Persönlichkeitsmerkmale‚ die zur Diagnose von Psychopathie gehören. Bei Individuen mit einem S-Allel ist dieser Zusammenhang hingegen nicht gegeben. Ein Polymorphismus des Gens für die Monoaminoxidase-A (MAO -A), die für Abbau und Re—Synthese von Serotonin wichtig ist, kann ebenfalls in einer Gen-Umwelt-Interaktion langfristige Auswirkungen haben. Menschen mit einem solchen Polymorphismus bilden nach Misshandlungen im Kindesalter statistisch häufiger Verhaltensstörungen aus und zeigen eine erhöhte Tendenz zur antisozialen Persönlichkeit bzw. zu gewalttätiger Kriminalität im Erwachsenenalter (Caspi et al. 2002; Kim—Cohen et al. 2006). Bei ihnen tritt zudem eine stark erhöhte Antwort der Amygdala auf emotionale Stimuli und eine verminderte Antwort präfrontaler Regionen auf. Diese könnte für das bei Schwerkriminellen oft anzutreffende erhöhte Bedrohtheitsgefühl verantwortlch sein, da  sich dann in reaktiver Gewalt äußert“ (Roth 2014, S. 107 ff.).

Noradrenalin

Noradrenalin bewirkt größtenteils eine Aktivierung, Erregung und Wachheit des Gehirns. Die noradrenergen Zellen werden dann aktiviert, wenn ein neuartiges Ereignis oder eine neuartige Wahrnehmungserfahrung für ein bestimmtes Verhalten wichtig erscheint. Unabhängig davon, ob dieses Ereignis positiv oder negativ ist. Die Aktivierung von Noradrenalin bei einem neuartigen Ereignis, das relevant erschient für ein bestimmtes Verhalten, bewirkt und fördert eine Aufmerksamkeitsfokussierung. So kann der Organismus optimal auf den relevanten Reiz reagieren. Diese Aktivierung und dem damit einhergehenden optimalem Reaktionsverhalten ist jedoch nur in einem Zustand der entspannten Wachsamkeit und nicht im Moment der Müdigkeit oder etwa des Stresses möglich (vgl. ebd., S. 111). Nach Roth versetzt die Noradrenalinaktivierung den Körper in Alarmbereitschaft "(...) und verhindert die Beschäftigung mit kognitiven anspruchsvollen Aufgaben. Zudem werden Erinnerungen an bedrohliche Situationen gespeichert. Noradrenalin fördert dadurch nicht nur das Überleben während einer akuten Krise, sondern ist auch an der Vorbereitung auf zukünftige Gefahren beteiligt" (vgl. ebd., S. 112). Die Ausschüttung von Noradrenalin befähigt also den Organismus unter Stress zu schnellen Reaktionen. "Nachdenken und Grübeln werden abgeschaltet! Dies kann bei hohem Stress zu den sprichwörtlich "kopflosen" verhalten führen" (ebd.).

Acetylcholin

Acetylcholin wirkt stimmungsaufhellend und ist wichtig beim Gedächtnisaufbau und der Festigung von Lerninhalte. Dabei beeinflusst es die Freisetzung anderer Neurotransmitter und aktiviert weitere Gehirnzellen, die dabei in Kontakt kommen.

Diese cholinerge Zellen wirken nahezu im gesamten Gehirn und erzeugen bei einem Wahrnehmungsreiz eine selektive Aufmerksamkeit und erhöhte Wachsamkeit. Gerade bei neuen und bedeutungsvollen Reizen, die belohnende oder bedrohliche Aspekte beinhalten, führt dies zur Aktivierung von Acetylcholin. Acetylcholin bewirkt darüberhinaus, dass die Aufmerksamkeit auf einen bedeutenden Reiz bestehen bleibt und fördert dadurch die ebenso die Aufmerksamkeitsfokussierung. Dabei verringert es den Einfluss anderer, ablenkender Reize. Acetylcholin scheint ebenso daran beteiligt zu sein, Verhalten beim Individuum zu verstärken, welches gerade in Interaktion mit aktuellen Umweltbedingungen steht (vgl. ebd., S. 114f.). Roth verweist auch bei diesem Neuromodulator auf den Einfluss von Genen und Erfahrungen, insbesondere im Zusammenhang mit Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung oder etwa vorgeburtlichen Stresses von Seiten der Mutter und dessen Auswirkung auf das cholinerge System. "Ein Zusammenhang der genetischen Ausprägung des cholinergen Systems mit individuellen Eigenschaften wurde vor allem hinsichtlich des Risikos für das Auftreten einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) gezeigt. Diese Störung wurde mit einer bestimmten genetischen Variante des Cholin-Transporters in Verbindung gebracht, der das Cholin für die Synthese von Acetylcholin in die Zelle transportiert. Ein Einfluss von frühem Stress wurde für die Entwicklung des cholinergen Systems ebenfalls nachgewiesen. Wir haben erwähnt, dass Acetylcholin die Aktivität der Zellen im präfrontalen Cortex beeinflusst und hierdurch exekutive Funktionen wie Arbeitsgedächtnis, Aufmerksamkeit, zielgerichtete Handlungssteuerung usw. beeinflusst. Exekutive Funktionen entwickeln sich in vollem Ausmaß erst in der späten Jugend oder im jungen Erwachsenenalter. Zu dieser Zeit treten gewöhnlich Veränderungen im cholinergen System auf: In den Zellen wird Kalzium freigesetzt, das die Wirkung des Acetylcholins auf die muscarinischen Rezeptoren verstärkt. Früher Stress kann diese Entwicklung behindern und über diesen Mechanismus möglicherweise die Ausreifung der exekutiven Funktionen langfristig beeinträchtigen. Weiterhin wurde ein Einfluss vorgeburtlichen Stresses auf die Entwicklung des cholinergen Systems nachgewiesen. Mütterlicher Stress während der Schwangerschaft führt hiernach im Tiermodell zu einer veränderten Ausbildung der Bindungsstellen für das Acetylcholin im Hippocampus" (Roth 2014, S. 115f.)

Endogene Opioide

Endogene Opioide sind hirneigne neurochemische Substanzen (Opioid-Peptide) mit opiat-ähnlichen Wirkungen. Sie wirken bei Aktivierung schmerzlindernd oder gar schmerzhemmend. Diese Wirkung bezieht sich zum einen auf körperlichen und zum anderen auch auf seelischen Schmerz, welcher bei sozialer Ablehnung etwa oder Ausgrenzung empfunden wird. Endogene Opioide fördern das Wohlgefühl und die Freude bei Menschen innerhalb sozialer Kontexte in deren Umfeld, weil beim Aufbau und der Erhaltung sozialer Bindungen diese Opioide freigesetzt werden. Opioide spielen ebenso eine Rolle im Zusammenwirken mit dem Belohnungssystem. Wie bereits bei der Wirkung von Dopamin erwähnt, hat dieses bei Aktivierung Auswirkung auf das "Wollen" und endogene Opioide haben Auswirkung auf das "Mögen". So entsteht im Zusammenwirken überlappender Systeme motivgesteuertes Verhalten, gerade in Bezug auf dessen belohnende Wirkung in sozialen Interaktionen. Dysfunktionen der endogenen Opioid Aktivierung gehen auf der anderen Seite mit Störungen sozialem Verhalten einher und negativen emotionalen Gefühlen. Ebenso wirken sie wiederum andrerseits stressdämpfend bei emotionalen Reaktionen, etwa bei Furcht auf bedrohlich Reize, Ängste und bei Trennungen von Mutter und Kind. Hierbei wirken Opioide unterdrückend auf Angstreaktionen (vgl. ebd., S. 116ff.). 

Auch im Opioid-System können mehrerer Genvarianten die individuelle Funktionsweise  beeinflussen, wie Roth es erläutert. „Auch im Opioid-System können genetische Polymorphismen [das Auftreten mehrerer Genvarianten innerhalb einer Population] die individuelle Funktionsweise der jeweiligen Systeme beeinflussen. Dies ist für den Polymorphismus des Gens für den µ-Rezeptor der Fall. Hier haben Träger des G-Allels [alternativen Formen eines Gens] häufig andere Eigenschaften als Träger zweier A-Allele. Das G-Allel kommt häufiger bei Frauen als bei Männern vor und ist besonders im asiatischen Raum verbreitet. Entsprechend der genannten Wirkung von Opioiden auf seelischen Schmerz sind Menschen mit diesem Allen nicht nur besonders sensibel gegenüber körperlichem Schmerz, sondern reagieren auch empfindlicher auf soziale Ablehnung als andere. Sie sind grundsätzlich interessierter an sozialen Interaktionen als Individuen mit einer anderen Genvariante und tendieren seltener als andere zu vermeidendem Bindungsverhalten (s. Kapitel 4). Stattdessen zeigen sie häufig ein ängstliches Bindungsverhalten, indem sie den engen Kontakt zu anderen zwar sehr wünschen, dabei aber zugleich fürchten, verletzt zu werden.

Selbst Affenkinder mit einem G-Allel eines vergleichbaren Polymorphismus weisen in der Mutter-Kind-Interaktion ein Verhalten auf, dass dem Verhalten von Kindern ähnelt, deren Bindung zur Mutter in der „Fremden Situation“ nach Ainsworth (vgl. Kapitel 4) als unsicher-ambivalent klassifiziert wurde.

In einer Gen-Umwelt-Interaktion beeinflusst die individuelle Funktionsweise der Opioidrezeptoren zudem, welchen Einfluss Umwelterfahrungen haben. Träger des G-Allels des oben beschriebenen Polymorphismus haben im Vergleich zum A/A-Genotyp zwar grundsätzlich eine größere Tendenz zu einem ängstlichen Bindungsstil, allerdings wird ihr Bindungsstil nicht so sehr durch die Umwelt beeinflusst. Die Individuen mit einem A/A-Genotyp sind anfälliger gegenüber den Auswirkungen früher Erfahrungen. Dies gilt im Guten wie im Schlechten: Wenn sie als Kinder eine hohe mütterliche Fürsorge erhalten haben, dann ist bei ihnen das Risiko, einen ängstlichen Bindungsstil zu entwickeln, sehr gering. Haben sie dagegen eine geringe mütterliche Fürsorge erlebt, dann ist dieses Risiko besonders groß, und zwar noch größer als bei den Individuen mit dem dem G-Allel" (Roth, 2014, S. 119f.).

Oxytocin

Die wichtigsten Wirkungen hat Oxytocin in Bezug auf das Bindungs- und Fürsorgeverhalten bei Menschen, insbesondere bei Eltern und ihren Kindern, aber auch bei Paaren. Ausgelöst durch unterschiedliche physiologische Reize, verschiedene Formen von Stress in der positiven oder negativen sozialen Interaktion des Individuums mit der Mit- und Umwelt. Die Reizauslöser, die zur Aktivierung von Oxytocin führen, sind stark erfahrungs- und prägungsabhängig. Sie sind somit auch aktivierbar bei Erinnerungen an positive soziale Kontakt-Interaktionen. Oxytocin bedingt andere Neuromodulatoren und neurochemische Substanzen und wechselwirkt mit dessen Freisetzung und umgekehrt. Der hemmende Einfluß von Oxytocin auf die Freisetzung des Stresshormons Cortisol ist einer dieser Effekte. Durch körperlichen Trost in einer Stresssituation vermindert eine hohe Oxytocinkonzentration die Cortisolfreisetzung und hemmt so beispielsweise stressbedingte Kampf- oder Fluchtreaktionen. Eine Förderung der Freisetzung von Oxytocin durch Bindungserfahrungen führt zudem beim heranwachsenden Menschen zu einer "(...) stärkeren Tendenz zu positiver Emotionen und einem Sinn für Verbundenheit" (Roth 2014, S. 123; vgl. ebd. 120ff.).

Oxytocin werden daher die förderlichen Effekte prosozialen Verhaltens, Einfühlungsvermögen, Vertrauen, Empathie und die Beteiligung und Motivation an sozialen, kooperativen Interaktionen zugeschrieben. Dies alles ist auch abhängig von Geschlecht und frühen Erfahrungen. Roth verweist aber auch auf "schlechte Eigenschaften", Oxytocin sei "(...) kein Glücks- und Liebeshormon per se, denn es kann auch schlechte Eigenschaften wie Neid und Schadenfreude verstärken" (Roth 2014, S. 125; vgl. ebd. 120-126). Dies kann aus der wechselwirkenden Beeinflussung anderer Neuromodulatoren und  neurochemischen Substanzen hervorgerufen werden. Wenn beispielsweise bei Aktivierung von Oxytocin ein Gefühl von Freude aufkommt – sei es auch Schadenfreude – und endogene Opioide ausgeschüttet werden, kann eine Handlung und ein Verhalten eines Individuums "mögend" motiviert werden, auch wenn es von anderen als "schlechte" Eigenschaft und unmoralisch betrachtet wird. Ebenso können aber auch Verhaltensweisen und Handlungen angenommen werden, aufgrund von Bedingungen von Dritten. Hierfür können Gruppendruck, Verbundenheits- und Zugehörigkeitsgefühl als Aktivierungsreiz von Oxytocin sein und das Individuum erlebt die positiven Effekte dieses Bindungshormons (vgl. Roth et al. 2014). Nachgewiesen wurde inzwischen auch beim Oxytocinsystem der Einfluss von Genen und Erfahrungen „Wie zu erwarten, beeinflusst die individuelle genetische Ausstattung eines Menschen die Funktionsweise seines Oxytocinsystems und hierüber sein Verhalten. Eine bestimmte Variante des Gens für den Oxytocinrezeptor (das sogenannte A-Allel des rs53576 Polymorphismus) geht mit einer geringeren Ausprägung von Prosozialität, Empathie‚ Vertrauen, positivem Affekt, Optimismus, Beherrschung und Selbstwertgefühl einher. Träger dieses Allels zeigen zudem eine größere Stressempfindlichkeit und haben Schwierigkeiten, Menschen vor einem Geräuschhintergrund zu verstehen. Personen mit einem A/A-Genotyp profitieren nicht so sehr von einer Unterstützung durch den Partner, und ihre Stressantwort wird nicht durch die soziale Unterstützung reduziert. Grundsätzlich scheinen Mensehen mit einem A/A-Genotyp weniger dazu zu neigen, in Stresssituationen soziale Unterstützung zu suchen. Personen mit dem G-Allel profitieren dagegen in einer Stresssituation gut von einer sozialen Unterstützung durch den Partner. Sie weisen nur eine geringe subjektive Stressempfindlichkeit und eine geringe Cortisolfreisetzung als Antwort auf den Stress auf.

Die genetische Ausprägung beeinflusst hiernach die Effektivität positiver sozialer Interaktion als Schutzmechanismus vor stressreichen Erfahrungen. Mütterliches Verhalten wird ebenfalls durch diese Genvariante beeinflusst, denn Mütter mit einem A-Allel reagieren oft weniger einfühlsam auf ihr Kleinkind als Mütter mit dem anderen Genotyp. Sie scheinen weniger empfindlich für Botschaften des Babys zu sein, zumindest beantworten sie dessen Schreien mit einer geringeren physiologischen Reaktivität. Für antisozial-psychopathisches Verhalten, ausgeprägt aggressive oder auch unempathische Verhaltensweisen wurde ebenfalls ein Zusammenhang mit Polymorphismen des Oxytocinrezeptors nachgewiesen.

Darüber hinaus können Erfahrungen den Oxytocinhaushalt langfristig beeinflussen, insbesondere frühkindliche positive und negative Erfahrungen mütterlicher Fürsorge. Eine hohe mütterliche Fürsorge kann hiernach bei den Nachkommen eine erhöhte Oxytocinfunktion auslösen, ebenso wie eine verminderte mütterliche Fürsorge die Funktionsweise des Oxytocinsystems langfristig verringert (Winslow et al. 2003).

Allerdings gibt es hier eine sensible Periode, denn viele Kinder, die früh vernachlässigt wurden, aber bereits einige Jahre behütet in einer Adoptivfamilie leben, reagieren im Gegensatz zu anderen Kindern auf körperlichen Kontakt mit ihrer Mutter nicht mit einer erhöhten Oxytocinfreisetzung.

Offenbar beeinträchtigt die frühe Vernachlässigung deutlich die normale Entwicklung des Oxytocinsystems. Normalerweise bietet der körperliche Kontakt mit vertrauten Erwachsenen dem Kind Schutz; er spendet Trost und beruhigt das Kind. Im Gehirn des vernachlässigten Kindes scheint dies aber nicht zu funktionieren. Allerdings gibt es Kinder, die trotz einer frühen Vernachlässigung eine durchaus normale Oxytocinfunktion besitzen. Sie haben aufgrund ihrer genetischen Ausstattung und zusätzlicher positiver Umweltbedingungen wie einer „Ersatzmutter“ in der näheren Umgebung eine ausreichende Widerstandskraft (Resilienz) entwickelt. Eine erfahrungsbedingt verringerte Oxytocinfunktion ist auch im Erwachsenenalter noch nachweisbar. Frauen, die während ihrer Kindheit missbraucht wurden, neigen ebenfalls zu einer verringerten Oxytocinkonzentration im Hirnliquor (Heim et al. 2009, Abbildung 3.9).

Der spätere Umgang mit Stress kann ebenfalls durch das erfahrungsabhängige Ausmaß der Oxytocinfunktion beeinflusst werden. Wie beschrieben, kann Oxytocin die Freisetzung des Stresshormons Cortisol hemmen, und entsprechend können frühe negative Erfahrungen, z.B. eine frühe Trennung von den Eltern, diese Fähigkeit des Oxytocins langfristig reduzieren. Die frühe traumatische Erfahrung scheint deshalb mit einer erhöhten Stressempfindlichkeit einherzugehen.

Der Einfluss früher Erfahrungen auf das Oxytocinsystem scheint zudem eine Veränderung in der Ausbildung der Oxytocinrezeptoren zu beinhalten (z. B. Branchi et al. 2013) und hierüber auch die Wirkung des Oxytocins vermindern zu können. Die frühe Kindheit stellt offenbar eine Periode dar, innerhalb der Oxytocin selbst die Anzahl seiner Bindungsstellen beeinflusst und hierdurch die Unterschiede in späterem Verhalten langfristig festlegt. (…) Möglicherweise tritt auch im Oxytocinsystem eine Gen-Umwelt-Interaktion auf. Das G-Allel des Oxytocinrezeptor-Polymorphismus könnte eine genetische Variante darstellen, die eine Anfälligkeit für die Auswirkungen von Umwelteinflüssen bewirkt. Im Vergleich zu Trägern des A-Allels haben Individuen mit einem G/G-Genotyp ein größeres Risiko, infolge eines Kindesmissbrauchs emotionale Fehlregulationen und eine desorganisierte Bindungsrepräsentation zu entwickeln. Das A-Allel könnte hingegen eine Resilienz gegenüber den Auswirkungen früher negativer Erfahrungen hervorbringen (Abbildung 3.10)“ (Roth 2014, S. 126ff.).

Motivation und subjektive Bewertungen

Für das Bewerten von Reitzen, Erfahrungen, Handlungen und den damit einhergehenden Konsequenzen für weiteres Verhalten sowie emotionalen Erregungszuständen, ist im Gehirn das limbische System zuständig. Das limbische System ist ein sehr komplexes Netzwerk von unterschiedlichen Bereichen im Gehirn. Roth (vgl. ebd., S. 54f.) unterscheidet es in drei limbische Ebenen. Insgesamt entspricht es einem internen Bewertungs- und Motivationssystem. Beim Zusammenspiel dieser fein aufeinander abgestimmten einzelner Hirnareale werden die zuvor beschriebenen neurochemischen Substanzen entweder aktiviert oder gehemmt und wie o.g. wirken diese wechselseitig aufeinander und bedingen sich gegenseitig. Gleichzeitig werden in diesem System Ereignisse danach bewertet und repräsentiert, ob sie positive oder negative Auswirkungen auf das Individuum und dessen weiteres Handeln und Verhalten haben. Ein positives Ereignis "ist mit der Ausschüttung hirneigener Opioide durch Zentren des Hypothalamus verbunden, die auf Rezeptoren im mesolimbischen System einwirken, vornehmlich im Nucleus accumbens, aber auch in der Amygdala und im orbitofrontalen, cingulären und insulären limbischen Cortex. Dies bewirkt ein Gefühl der Belohnung und damit Freude, Vergnügen und Lust. Die Erfahrung negativer Ereignisse geht mit der Ausschüttung von Substanz-P ("P" für "pain"), (...) einher und erzeugt Gefühle der Unlust, des Schmerzes, der Bedrohung bis hin zur Panik. Hiermit eng verbunden sind auch ein Defizit im Serotoninhaushalt (...)" (Roth 2011, S. 55). Aufgrund dieser appetitiven (positiven) oder aversiven (negativen) Bewertungen werden im weiteren Verlauf beim Individuum festgelegt, mit welcher Intensität auf einen Reiz und der damit einhergehenden Belohnung oder Bestrafung verhaltensmäßig reagiert wird (vgl. Roth 2011, S. 55). Das limbische System wird daher, aus neurobiologischer Sicht, als Sitz der Psyche angesehen (vgl. Roth 2014, S. 63) und die Ergebnisse der Bewertungen aus vorangegangenen Ereignissen dienen als subjektive Präferenz und Motivation für weiteres Verhalten. 

Es wird hier im weiteren Verlauf der Fokus, soweit notwendig für ein Verständnis im Zusammenhang motivationalen Verhaltens unseres Themas, auf die wichtigsten "Aufgaben" und Wirkungen des limbischen Systems eingegangen. Im Detail ist der differenzierte Aufbau und die biologische Darstellung bei Roth (2014) gut dargestellt und kann im Einzelnen dort vertieft werden.

Untere limbische Ebene

Die untere limbische Ebene steuert die wichtigsten Körperfunktionen und gilt als sich am frühesten zu entwickeln. Es bildet die Grundlage angeborener vegetativen-affektiven unbewußten Verhaltensweisen von Angriffs-, Verteidigungs- und Angstreaktionen sowie dessen Stressregulation, trägt zu affektiv-emotionalen Zuständen bei wie Wut, Zorn, Freude oder Trauer. In dieser Eben werden beispielsweise auch die Sexualhormone gesteuert und die Schlaf-Wach Rhythmen. Nach Roth bedingen diese Funktionen in dieser Ebene "(...) die grundlegenden Eigenschaften unserer Persönlichkeit, Temperament genannt, mit denen wir auf die Welt kommen. Sie sind überwiegend genetisch bestimmt, können aber auch durch vorgeburtliche Erfahrungen – häufig vermittelt über negative Erfahrungen  der Mutter während der Schwangerschaft – beeinflusst werden" (Roth 2014, S. 92f.). 

Vorgeburtliche Erfahrungen sind psychoneurale Entwicklungen des Gehirns. Das Gehirn reift vor- und nachgeburtlich aus. Dies geschieht auf Grundlage engen Interaktion von genetischer Steuerung, Selbstorganisation und Umwelteinflüssen. Hierzu gehören z.B. Entwicklung des Stress-Verarbeitungssystems. Das Stressverhalten eines Kindes wird z.B. vorgeburtlich über das mütterliche Gehirn und anderen Umwelteinflüsse bedingt. Die „Arbeitsweise“ des mütterlichen Gehirns liefert die „Blaupause“ für die Gehirnentwicklung des Ungeborenen. Erlebt die Mutter stressbedingte Reize während der Schwangerschaft etwa, so sind wechselwirkende Neuromodutatoren und andere neurochemische Substanzen am wirken, die wiederum ein bestimmtes Verhalten bei der Mutter bedingen. Dieses Hirnaktivitätsmuster der Mutter dient dann als Vorlage für die Hirnentwicklung des Ungeborenen. Hierzu gehört die Erhöhung und Erniedrigung der Zahl der Cortisolrezeptoren in der Amygdala und im Hippocampus, welches mit der Mobilisierung der metabolischen, physiologischen und psychischen Reserven einhergeht, die Adrenalin-Noradrenalin Ausschüttung welche mit der Erhöhung des Muskeltonus, der Reaktionsbereitschaft und der Aufmerksamkeit einhergeht. Dies wiederum kann Auswirkungen auf einen Mangel von Schlaflosigkeit haben, Auswirkungen auf Depression zeigen, etwa weil das serotonerge Beruhigungssystem Funktionen und Regulationen der Nahrungsaufnahme beeinflußt, Schlafrhythmus  und Körpertemperatur,  die Dämpfung, Beruhigung und das Wohlbefinden regulieren. Ein Mangel an Serotonin kann Ängstlichkeit, reaktive Aggression und Impulsivität hervorrufen. Die Ausschüttung der daran beteiligten Neuromodulatoren wirken dabei wechselseitig individuell verstärkend und hemmend mit- und aufeinander (vgl. Roth et al. 2014)

Mittlere limbische Ebene

Sie steht im Zusammenhang mit unbewußter Emotionsentstehung- und Kontrolle, vor allem aber mit unbewusster Verhaltensbewertung. Dies korreliert wiederum mit unbewußter emotionaler Konditionierung, motivationale Funktionen des Lernens und der Gedächtnisbildung. Hierbei werden Erfahrungen mit Verhaltensweisen und Gefühlen miteinander verknüpft. Dies dient als interne Präferenz zur späteren Vorbereitung und Steuerung von Handlungen, welche emotional und motivational beeinflußt sind. Dies geschieht unter unbewussten Abwägungen und Aspekten, inwiefern welcher Belohnungswert von Objekten und Handlungen ausgeht und wie motivierend und lustgewinnend dies beurteilt wird (vgl. ebd., S. 68ff.). Roth spricht hier von einer "Freischaltung" einer Handlung bei gleichzeitiger "Unterdrückung" von anderen Handlungsalternativen. "Dies geschieht unter dem Einfluß des Hippocampus, der den Verhaltenskontext vermittelt (...), der Amygdala, die vornehmlich negative oder überraschende Erfahrungen vermittelt, und des Nucleus accumbens, der überwiegend positive Erfahrungen und Belohnungserwartungen weitergibt. Hierdurch findet ein Abgleich unbewusster positiver und negativer Motive statt (...)" (Roth 2014, S. 80). 

Bei Wahrnehmungen, Erfahrungen und allgemein relevant erscheinende Geschehnissen,  integriert der Hippocampus Informationen aus dem Kurzzeit- bzw. Arbeitsgedächtnis und sendet sie in die assoziativen Gebiete der Großhirnrinde. Dort befindet sich das Langzeitgedächtnis. Der Hippocampus ist ebenso wieder daran beteiligt, beim „Abrufen“ von Inhalten aus dem Langzeitgedächtnis. Es wird als wahrscheinlich angesehen, dass  der Hippocampus eine Art Verwalter darstellt und über die „Zugriffscodes“ verfügt zu den Inhalten im Langzeitgedächtnis und des episodischen Gedächtnisses. Amygdala und mesolimbisches System „färben“ dabei die Geschehnisse emotional ein. Dieser Prozess verstärkt die Verankerung mit emotionalen Komponenten der Inhalte im Langzeitgedächtnis. Dies führt zu einer starken Konsolidierung (vgl. ebd., S.82f.).

Neurokonstruktivistisch gesehen ist ein solches "Verwalten" im Sinne eines internen Präferenzsystems, ein Bewerten, Abgleichen, Kombinieren und Verknüpfen mit schon Vorhandenem. Es dient der Suche nach Mustern, um ganz eigene, subjektive Erlebenskonstruktionen zu erzeugen und in Ordnungszustände zu gelangen. Emotionale Konditionierungen, wie oben erwähnt, finden in dieser mittleren Ebene hauptsächlich unbewußt statt und gehen auf frühkindliche Bindungserfahrungen zurück der primären Bezugspersonen. In dieser Phase des Kleinkindes beginnt in der mittleren limbischen Ebene das Verständnis der Differenzierung der eigenen Gefühlswelt sowie der Gefühle anderer. Dies bildet im weiteren Verlauf der Entwicklung die Grundlage emotionaler Kommunikation und des Empathievermögens. Hieran angeknüpft sind erste und weitere Belohnungserfahrungen und Belohnungserwartungen, was wieder zur Grundlage einer egozentrischen Motivation wird (vgl. ebd., S. 93). 

Diese Erfahrungen haben „(…) prägenden Einfluß auf die Entwicklung der Persönlichkeit“ (Roth 2014, S. 93). All dies vollzieht sich unbewußt oder als nicht erinnerungsfähig. Merkmal dieser mittleren limbischen Ebene ist schnelles, auf Konditionierung basierendes lernen, das sich im Laufe der Zeit allerdings weiteren Erfahrungen gegenüber zunehmender verschließt (vgl. ebd., S. 93).

Obere limbische Ebene

Die obere limbische Ebene besteht aus spezifischen Arealen der Großhirnrinde. Sie koordinieren hauptsächlich die bewussten Gefühle und Handlungsmotive sowie Sozialisation. Hierzu gehören Areale des orbitofrontalen, ventromedialen, anteriore cinguläre sowie insuläre Cortex (vgl. Roth 2014, S. 83)

Die in diesem Bereich sitzenden limbischen Areale haben reziproke Verbindungen zu anderen spezifischen Arealen, etwa in die untere limbische Ebene (Nucleus accumbens, Amygdala). Die Verbindungen sind allerdings von "unten nach oben", von der unteren und mittleren limbischen Ebene in die obere limbische Ebene der Großhirnrinde stärker in dieser Richtung, als umgekehrt. Infolgedessen werden bereits "unbewusst" getroffene Entscheidungen von der unteren und mittleren limbischen Ebene in dieser oberen Ebene letztlich und lediglich, aber einer immens wichtigen Überprüfung gegenübergestellt. Dies betrifft die Fähigkeit zur Intervention, als letzte Instanz, von Toleranz, Impulshemmung, Empathie und das Abschätzen von Konsequenzen (vgl. ebd., S. 83-84). Nach Roth ist die Aktivierung dieser Zentren "(...) die Grundlage bewußter Gefühle und Motive, aber auch von Sozialisation und Erziehung und der sozialen Motivation. Hier bildet sich die Fähigkeit zur Impulshemmung, zum Belohnungsaufschub, zur Frustrationstoleranz und zur Empathie aus, insbesondere auch die Fähigkeit, die möglichen Konsequenzen des eigenen Handelns abzuwägen und Risiken realistisch einzuschätzen. All dies geschieht wie auf der mittleren Ebene unter Einfluss der Umwelt, jedoch diesmal nicht nur über die primären Bezugspersonen, sondern auch über die weiteren Familienmitglieder, über Freunde und Schulkameraden, die damit zum Vorbild eigenen Verhaltens werden. Diese Ebene bildet sich langsam bis zum Erwachsenenalter hin aus und ist entsprechend leichter zu verändern, (...)" (Roth 2014, S. 93).

Spezifische Areale des limbischen Systems in der Großhirnrinde sind zudem im "Ruhezustand", d.h. wenn diese Areale nicht mit bestimmten externen Reizen beschäftigt sind, mit internen Prozessen tätig. Hierzu gehören selbstreflexive Gedanken und autobiographische Erinnerungen. Kognitive Aufgaben und eine Beschäftigung mit externen Reizen hingegen führt zu einer Deaktivierung dieser reflexiven Gedanken (vgl. ebd., S. 86).

Subjektive Bewertungen und das entstehen von Werten

Zusammenfassend, entspricht das limbische System einem internen Bewertungs- und Motivationssystem. Hierbei bilden die wichtigsten Körperfunktionen die Grundlage angeborener unbewußter vegetativen-affektiven Verhaltensweisen, welche im unteren limbischen System gesteuert werden. Dabei entstehen grundlegende Eigenschaften unserer Persönlichkeit, mit denen wir auf die Welt kommen und sie sind überwiegend genetisch bestimmt, können aber auch durch vorgeburtliche Erfahrungen beeinflusst werden, wie oben bereits eingegangen wurde. Im weiteren Verlauf der Hirnentwicklung, unbewußter Emotionsentstehung- und Kontrolle, sowie der unbewussten Verhaltensbewertung, aktivieren neurochemischen Substanzen dann immer längerfristig neuronale Übertragungsbereitschaften zu den neuronalen Repräsentationen. Dabei wirken diese neurochemischen Substanzen wechselseitig aufeinander und bedingen sich gegenseitig. Die daraus entstehenden  neuronalen Repräsentationen von Bewertungen manifestieren sich in der weiteren Entwicklung unter Einfluss der Umwelt, d.h. meist zuerst über primäre Bezugspersonen,  weiteren Familienmitglieder, Freunden und den damit inhärenten subjektiven Erfahrungen, wie zuvor erläutert. Dabei werden Ereignisse von Erfahrungen und Verhaltensweisen immer wieder intern danach bewertet und repräsentiert, welche Auswirkungen dies auf das Individuum und dessen Verhalten haben. Aufgrund dieser Bewertungen werden im weiteren Verlauf beim Individuum festgelegt, mit welcher Intensität auf zukünftige Reize verhaltensmäßig reagiert wird. 

Hieraus lassen sich drei entscheidende Faktoren für ein Konzept von einem subjektiven Verständnis von "Bewerten" ableiten, was zu unseren Charaktereigenschaften führen:

- genetische Entwicklung des Gehirn und epigenetische Prämissen, d.h. vorgeburtliche und früh- nachgeburtliche Einflüsse (neurochemischen Substanzen und Umwelteinflüsse), haben Einfluss auf die Aktivität von Sinnesorgane und Sinnessysteme, sowie ihre daraus folgende emotionalen Repräsentationen von Bewertungen

- Einflüsse in der Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter von Familie und Peergruppen wirken auf die weitere Entwicklung ein

- eigene, ganz persönliche Erfahrungen werden subjektiv bewertet und lassen eigene Verstehensprozesse und Verhaltensweisen entstehen, das sich zunehmend zu einem Selbst-Konzept von Werten etabliert.

Die Ergebnisse der Bewertungen aus vorangegangenen Erfahrungen mit emotionaler Konditionierung, dienen somit als subjektive Präferenz und Motivation für weiteres Verhalten. Dies vollzieht sich hauptsächlich unbewußt oder als nicht erinnerungsfähig und es entspricht einem Selbst-Konzept  von einem subjektiven Verständnis von Werten.

Diese Werte können sich im Laufe der Entwicklung im Zusammenspiel mit der Produktion von Hormonen und neurochemischen Botenstoffen verändern. Das Bewertungs- und Motivationssystem und die daraus entstehenden Werte eines Individuums, ist wie o.g. eng verknüpft mit Alter, sowie Lebensumstände und -einflüsse. 

Nicht weniger dient dieses Konzept von subjektiven Werten dem Individuum als Orientierungspunkt für Ordnungszustände. Wahrnehmung, Aufmerksamkeitsfokussierung, Handlungen und Verhalten werden dabei in einem andauernden Prozess immer wieder mehr oder weniger aktualisiert und fließen in das sich fortentwickelnde Wertesystem des Individuums mit ein. Für das Individuum ergeben sich daraus unwillkürliche "Vorstellungen" von Lebensqualität, Einstellungen und Haltungen. Diese werden im Laufe der Zeit starrer und inflexibler in Bezug auf Verhaltensänderungen, weil sich das Individuum zunehmender weiteren Erfahrungen gegenüber verschließt (vgl. ebd., S. 93). 

 

Literatur

Roth, Gerhard; Strüber, Nicole (2014): Wie das Gehirn die Seele macht. Stuttgart (Klett-Cotta)

Roth, Gerhard (2011): Bildung braucht Persönlichkeit. Wie Lernen gelingt. Stuttgart (Klett-Cotta)